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Charakterkunde: „Ich bin auch immer der andere“

Die Philosophin Ariadne von Schirach beschreibt in ihrem neuen Buch „Ich und Du und Müllers Kuh“ die emotionale Grundstruktur und den kommunikativen Stil von sechs menschlichen Charakteren. Dabei lernt man nicht nur, andere besser zu verstehen, sondern „kommt sich gelegentlich auch selber auf die Schliche“.

Inge Behrens: Wie sind Sie auf den Titel „Ich und Du und Müllers Kuh“ verfallen?

von Schirach: Man kann das Buch als Nachdenken über verschiedene Beziehungen verstehen, also den Umgang mit sich, dem Anderen und der Welt. Diese drei Ebenen spiegeln sich auch in diesem alten Abzählreim. „Ich und Du und Müllers Kuh; Müllers Esel der bist Du“. Wir sind alle mal bei uns, mal ganz anders und immer mal wieder: Müllers Kuh oder Esel.

IB: An wen richtet sich Ihr Buch und was ist die Intention Ihres Buches?

von Schirach: Jeder Mensch ist eine Gesellschaft, sagt Sigmund Freud. In der Charakterkunde geht es deshalb nicht darum, sich und andere in Schubladen zu stecken, sondern darum, den vielen widersprüchlichen Impulsen und Stimmen in sich Raum und Gestalt zu geben. Und dadurch letztlich nicht nur sich, sondern auch seine Mitmenschen besser zu verstehen.

IB: Warum haben Sie als studierte Philosophin ein psychologisches Buch über die sechs Hauptcharaktere geschrieben?

Ariadne von Schirach: „Erkenne dich selbst“ stand über dem Orakel von Delphi und war das Credo von Sokrates. Wenn wir die Welt, unsere Gesellschaft und unsere Mitmenschen verstehen wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Und dort finden wir immer das Gleiche. Widersprüche und Ambivalenzen, das vielstimmige Konzert unserer Lebendigkeit.

„Ich bin auch immer der andere“

 IB: Sie schreiben, dass Sie diese Charaktertypen als Gestalten, gewissermaßen als Figuren sehen. Können Sie bestimmte Filmfiguren oder bekannten Personen ihren sechs Typen zuordnen?

von Schirach: Dieser Versuchung würde ich, was die realen Vorbilder angeht, gerne widerstehen, obwohl man mit Donald Trump gerade einen Vollblutnarzissten in action beobachten kann. Aber blicken wir mal ins Fiktionale: Der einsame Wolf beispielsweise in Gestalt von Batman ist eher schizoid, gnadenlose Bürokraten wie Stromberg tragen zwanghafte Züge. Bei Sherlock Holmes ist Watson ein Depressiver, während Holmes ein Schizoider ist. Man könnte allerdings darüber sprechen, ob dieser nicht auf schon narzisstische Weise das Bild des unfehlbaren Detektives bedient. Obwohl es verführerisch ist, seine Mitmenschen zuzuordnen, sollte man sich bewusst sein, dass nur der Blick nach innen zu echtem Verständnis und damit auch zu mehr Toleranz und einem liebevolleren Umgang führt. Man selbst ist eben auch so einer. In jedem Menschen sind alle Strukturen angelegt, deshalb können wir uns tatsächlich verstehen. Jeder hat schon mal die Kontrolle verloren, tiefe Unsicherheit gespürt oder ist schon einmal strahlender Mittelpunkt von irgendwas gewesen, wie es der Hysteriker so kindisch einfordert, und jeder stand schon mal traurig im Abseits, wo sich der Depressive verordnen würde.

IB: Hinter allen Charakterformen stecke Leid, schreiben Sie in Ihrem Buch. Diese Einsicht sei die Voraussetzung, um sich mit Menschen zu solidarisieren und sie überhaupt verstehen zu wollen. Müssen wir uns auch mit Menschen, die wir unsympathisch finden, solidarisieren?

von Schirach: Wir Menschen wachsen am Widerstand, und finden oft erst über dem Umweg des Anderen zu uns selbst. Zudem ist meist das, worauf man besonders allergisch ist, etwas, das man über sich selbst nicht wissen will. Eigener menschlicher Fortschritt zeigt sich ebenfalls meist als wachsende Toleranz „schwierigen“ Mitmenschen gegenüber. Wenn einen nichts mehr stört, ist man angekommen. Bis zur nächsten Krise (lacht).

IB: Wann hört denn Ihr Verständnis für Menschen auf?

von Schirach: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“. Auch dieser Satz beruht auf Selbsterkenntnis – nur wenn ich meine eigene Dunkelheit, also meine Gier, meine Eitelkeit, meine Bequemlichkeit und den ewigen Wunsch, etwas Besseres zu sein, anerkenne, verstehe ich den Anderen, anstatt ihn von oben herab zu beurteilen. Hier, in meiner eigenen Seele, werden auch die ersten und die wichtigsten Schlachten geschlagen, denn Verständnis bedeutet eben nicht Akzeptanz. Es gibt Dinge, die kann man verstehen, aber man darf sie nicht zulassen: weder bei sich noch bei Anderen.

„Verständnis bedeutet eben nicht Akzeptanz“

IB: Zu welchen der sechs Hauptcharaktere würden sie sich denn selber zählen?

von Schirach: Es ist mir wirklich gleichgültig, was andere von mir denken und doch will ich ihnen unbedingt gefallen. Bei mir trifft also schizoide Eigenständigkeit auf hysterische Aufmerksamkeitswünsche. So kann man sich wirklich gründlich im Weg stehen – bis man mal genauer hinschaut. Nur wer seine eigenen, oft eben widersprüchlichen Bedürfnisse kennt und zulässt, kann sie leben. Für mich bedeutet das, dass ich den Schizoiden in mir die Bücher schreiben lasse, den Hysteriker immer mal wieder auf die Bühne ins Rampenlicht schicke und ich dem in meinem Leben lange eher vernachlässigten depressiven, Zeit gebe, um mich für dessen Tugenden zu öffnen: Vertrauen haben, geschehen lassen, lieben lernen.

IB: Und wie geht man am besten mit Ihnen um?

von Schirach: Behandle den anderen stets so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

INFO: Ariadne von Schirach studierte Philosophie in München und Berlin. Sie arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und wurde als Autorin der Sachbuch-Bestseller „Der Tanz um die Lust“ und „Du sollst nicht funktionieren“ bekannt.