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Im Reich der Tiefe

Mit einem einzigen Atemzug 100 Meter tief zu tauchen, ist für die meisten Menschen eine beängstigende Vorstellung. Und auch der Wissenschaft gibt es Rätsel auf, wieso Freediver die tiefen Tauchgänge überleben. Wir haben mit Sara Campbell, der vierfachen Weltrekordlerin im Freediving gesprochen und etwas Licht ins Dunkel gebracht. Sie verriet dem neuen Achtsamkeitsmagazin moment by moment, dass Meditation für das Tieftauchen ein wichtiger Schlüssel ist.

Ein letzter tiefer Atemzug, dann klappt Saras Oberkörper nach vorne und sie taucht kopfüber in das Meer. Ihre Arme, zielgerade nach unten gestreckt, bewegt sie nicht. Nur die meerjungfräuliche Monoflosse an ihren Füßen pendelt wie ein Metronom hin und her und initiiert die Wellen, die ihren Körper rhythmisch von unten nach oben durchlaufen. Scheinbar mühelos gleitet sie Meter um Meter am Sicherungsseil in den Atlantik hinab. Ab einer Tiefe von 10 bis 15 Metern beginnt sie, der Erdanziehung zum Trotz anmutig und leicht durch den Ozean zu schweben. Dann beginnt sie, schneller zu sinken. Während sie allmählich in der totalen Finsternis des Ozeans verschwindet, steigt keine einzige Luftblase nach oben. Ganz offenkundig geschieht hier etwas, was mit dem vielzitierten gesunden Menschenverstand nicht so recht zu verstehen ist.

Nach drei Minuten und 34 Sekunden taucht die britische Freediverin wieder an der Wasseroberfläche auf. Nach kurzer Zeit steht das Ergebnis fest. 96 Meter tief ist sie getaucht und hat somit abermals einen Weltrekord-Titel im Apnoetauchen, wie die wissenschaftliche Bezeichnung für das Tauchen ohne Pressluftflasche heißt, geholt – und zwar in der Königsdisziplin „Konstantes Gewicht mit Flosse“.

Es sind bislang nur zwei Frauen 100 Meter tief getaucht!

Das war 2009 vor den Bahamas. Noch heute kann man auf Youtube ein Video ihres legendären Tauchgangs sehen. 2010 hatte Sara den Weltrekord-Titel an die Russin Natalia Molchanowa wieder abgeben müssen, nachdem ihre Freediving-Kollegin im ägyptischen Scharm al Scheich in 3 Minuten 50 Sekunden 101 Meter in die Tiefe getaucht war. Ein Jahr später gelang es Sara Campbell, bei einem Trainings-tauchgang sogar in eine Tiefe von 104 Meter hinabzusteigen. Somit sind Sara und Natalia die beiden einzigen Frauen, die jemals mehr als 100 Meter tief tauchten. Einen weiteren offiziellen Versuch, Natalias Rekord zu brechen, hat Sara Campbell seither nicht mehr unternommen. Vielleicht auch, weil die 44-jährige Russin Molchanowa 2015 vor der spanischen Insel Formentera von einem Trainings-tauchgang nicht mehr zurückkehrte. Der Ozean hatte die weltbeste Apnoetaucherin einfach verschluckt. Bis heute ist nicht geklärt, wie es dazu kommen konnte. Kritiker, die das Apnoetauchen für eine riskante und unberechenbare Sportart halten, fühlten sich bestätigt.

Freitauchen gibt der Wissenschaft Rätsel auf

Noch vor wenigen Jahren hielt auch die Wissenschaft es für unmöglich, dass Menschen in einer derartigen Tiefe überleben können. Forscher gingen davon aus, dass der Körper ab einer gewissen Tiefe einfach implodieren würde. Sara kennt die extremen Auswirkungen beim Apnoetauchen. „Alle zehn Meter verdoppelt sich der Druck. In einer Tiefe von 90 Metern habe ich statt 3,7 nur noch 0,3 Liter Atemluft, das ist weniger als ein Zehntel. Und der Pulsschlag verringert sich auf 20 bis 30 Schläge die Minute“, berichtet sie. Doch alle sieben Freediver-Disziplinen seien entgegen aller Vermutungen sehr sicher, sofern die Apnoetaucher die Sicherheitsregeln beachteten und sich professionell verhielten.

Beim Tauchen muss man sich dem Wasser voll anvertrauen

Freediving ist für Sara Campbell keine riskante, adrenalinsteigernde Sportart, sondern vielmehr eine spirituelle Erfahrung. „Wir können darauf vertrauen, dass es natürlich ist, in die Tiefe zu tauchen. Jeder Mensch verfügt über einen natürlichen Tauchreflex, den kann man aber nur aktivieren, wenn der Verstand zur Ruhe kommt und man stattdessen seine Intuition erhöht“, erläutert Sara. Erst dann könne man damit beginnen, den Verstand, der oft von inneren negativen Antreibern beeinflusst werde, zu transformieren. „Ich konnte nur deshalb 104 Meter tief tauchen, weil meine Seele meinen Verstand leitete und dieser wiederum meinen Körper dirigierte“, sagt die vierfache Weltrekordlerin.

In ihrer ägyptischen Wahlheimat Dahab, wo sie Anfänger und professionelle Sportler im Freediving unterrichtet, versucht sie, dieses intuitive Wissen an ihre Schüler weiterzugeben. Viele seien unglaublich ehrgeizig und begierig darauf, möglichst schnell die Technik zu erlernen. „Die meisten sind enttäuscht, wenn ich ihnen erkläre, dass Freediving weniger mit Technik zu tun. Es ist vielmehr eine Philosophie“. Eine der ersten Lektionen, die sie deshalb ihren Schülern erteilt, ist zu lernen, sich vom Wasser treiben zu lassen. Dazu müssen sie sich mit dem Rücken flach auf das Wasser legen und dürfen nur einen Finger auf eine Boje legen. „So erleben sie, dass der Ozean der Lehrer ist, der ihnen zeigt, wie man sich verhalten soll und sie sich ihm anvertrauen können. „Der Tauchgang ist vor allem dann beglückend, wenn man total loslassen kann und sich dem Augenblick komplett hingibt. Das ist purer Genuss“, schwärmt die 44-Jährige. Angst, Atemnot zu erleiden oder in Panik zu verfallen, kenne sie nicht. Ganz im Gegenteil. Den Atem unter Wasser lange anzuhalten, mache sie wirklich glücklich.

„Freediving ist Meditation unter Wasser“, schwärmt Sara Campbell

„Letztlich geht es beim Tauchen in großer Tiefe nicht um Erfolg und Leistung“, erklärt Sara. Sie sei nicht besonders interessiert am Wettbewerb. Was sie in die Tiefe des Ozeans zieht, sei vielmehr die Möglichkeit der spirituellen Erfahrung. Tieftauchen sei für sie nichts anderes als Meditation unter Wasser. Bevor Sara mit dem Freediving begann und nach nur neun Monaten Trainingszeit 2007 drei Weltrekord-Titel holte und 2007 erstmals die Weltmeisterschaft gewann, hatte die frühere PR-Beraterin viele Jahre lang intensiv Meditation und Yoga gelehrt. Eine ihrer Yoga-Schülerinnen, die auch Freediverin war, hatte beobachtet, dass Sara ihren Atem sehr lange anhalten konnte. Immer wieder bat sie ihre Yogalehrerin, sie beim Freediving zu begleiten und zu sichern. Schließlich willigte Sara ein und besuchte den Anfängerkurs im Freediving. Wider Erwarten fand Sara beim Freediving genau das, wonach sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte: die spontane Verbundenheit mit dem Universum und Gott, wie sie sagt: „Das ist der Moment, an dem man sich wieder unschuldig und rein fühlt“.

Achtsamkeit ist beim Tauchen oberstes Gebot

Meditation ist ein sehr geeignetes Mittel, um die Intuition zu fördern und ganz bei sich selbst zu sein. Diese Fähigkeit sei gerade beim Tauchen lebenswichtig, denn dabei müsse man jeden einzelnen Moment voll bewusst erleben und fokussiert sein, so Sara. Jeder Tauchgang entfalte sich von Moment zu Moment. „Ich muss mich in jeder Sekunde voll auf den physischen Prozess konzentrieren, so schaffe ich die beste Voraussetzung für die nächste Sekunde. Jeder einzelne Moment kann über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Weder beim Ab- noch beim Auftauchen, darf ich deshalb in keinem Augenblick die Präsenz verlieren. Dabei werde ich jeden Moment mit mir selbst konfrontiert, denn ich kann die Verantwortung an niemanden delegieren. So gesehen, haben wir beim Tieftauchen die einzigartige Möglichkeit, uns selbst in aller Wahrhaftigkeit zu begegnen“.

Weitere Infos unter:

www.discoveryourdepths.com

www.yogaforfreediving.com