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Von der Angst zur Liebe

Immer mehr Menschen plagen sich heute mit existenziellen Überlebensfragen und leben in ständiger Angst um das Morgen. Der Theologe Henri Nouwen erkannte, dass man dieser Angst nur mit Liebe begegnen kann. Er zeigt uns auch, wie man ein „Haus der Liebe“ baut.

Folgt man den Medien, so ist die Welt, in der wir leben, ein schrecklicher Ort. Jeden Tag berichten sie über Tsunami, Krieg und andere Katastrophen. Dabei werden uns ohne Unterlass angsteinflößende Bilder gezeigt. Doch kein Mensch kann all diese Schreckens-Szenarien verarbeiten. Man muss sich also fragen, welchen Sinn oder Nutzen haben diese Nachrichten überhaupt? „Was die Welt beschäftigt und wovon die Medien voll sind, ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Angst und Macht“, schrieb der katholische Priester und Seelsorger Henri Nouwen bereits in den 80er Jahren, dessen spirituelle Ratgeberbücher in den 70er und 80er Jahren großen Zuspruch fanden. Er erkannte, dass wir mehr denn je in einer angst-geprägten Gegenwart leben. In der westlichen gut informierten Gesellschaft hätten sich die meisten Menschen nicht nur diese Themen, sondern auch eine bestimmte fatalistische Sichtweise zu eigen gemacht. Unterschwellig scheinen sie alle dieselbe Botschaft zu vermitteln: Auf unserer Erde ist niemand sicher! Wir können nichts tun, als diesem Verderben nur hilflos und ohnmächtig zuzusehen und froh sein, wenn uns nichts passiert.

Nicht in Überlebensfragen und Angst verstricken

„Die Welt mit ihren angstbesetzten Fragen bestimmt in erheblichem Maße, wie wir an Menschen und Dinge denken, wie wir uns um sie sorgen“, stellte der 1996 verstorbene Henry Nouwen fest. Ein Zeichen dafür seien all die „Wenn“-Fragen, die wir uns beinahe täglich stellten. „Was soll ich tun, wenn ich später nicht von meiner Rente leben kann? Was soll ich machen, wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere?“ oder „Was soll ich tun, wenn mein Kind Drogen nimmt?“ Solche oder ähnliche „Wenn“-Fragen sind unser tägliches Brot. Und auch die typischen „Wie“-Fragen, die man sich auf der Suche nach einer Lösung oder einen Ausweg stellt, sind nicht weniger bedrückend. Vermutlich fragen sich viele derzeit „Wie kann ich mich bloß finanziell absichern?“ oder „Wie soll ich das bloß alles schaffen?“ Aber auf all die „Wenn“- und „Wie“- Fragen gibt es keine vernünftigen Antworten. „Wir sind unter einem riesigen Netz ängstlicher Fragen gefangen, das zahlreiche, wenn nicht sogar die meisten unserer täglichen Entscheidungen bestimmt“, konstatierte Nouwen schon vor einigen Jahrzehnten. „Je mehr Fragen wir uns stellen und je mehr wir meinen, diese beantworten zu müssen, desto mehr begeben wir uns in das Haus der Angst“, glaubte er.

Wer in ständiger Angst lebt, beraubt sich seiner Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen

Die Angst ist eine grausame Tyrannin, die, wenn sie von uns Besitz ergreift, letztlich das Sagen über unser Leben hat. Wer in ständiger Angst lebt, beraubt sich auch seiner Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Und umgekehrt heißt das: Menschen permanent Furcht einzuflößen und sie in Angst zu halten, kann für ein Gesellschaftssystem durchaus von Nutzen sein, da man leichter Macht ausüben und die Menschen besser kontrollieren kann. Doch was ist das für ein System, das nur mit Hilfe der Angst in Gang und am Funktionieren gehalten werden kann? Aus alldem schloss der Theologe Nouwen: „Wer nicht zu einem ängstlichen, sorgenvollen und nervösen Menschen werden möchte, darf sich nicht in unnötige Überlebensfragen verstricken.“ Am besten achtet man also gut darauf, mit welchen Fragen man sich beschäftigen und die Seele belasten möchte, und vor allem: mit welchen nicht.

Auszug aus dem „Haus der Angst“

Jeder kennt Menschen, die für – wie Nouwen sie nennen würde – unnötigen Überlebensfragen wenig empfänglich sind und auch gar nicht wissen wollen, wie ihre Zukunft genau aussieht und trotzdem voller Zuversicht ins Leben blicken. Solche Menschen besitzen ein hohes Maß an Urvertrauen, das sie stets optimistisch auf die Welt blicken lässt, und ihnen das Selbstvertrauen und die Gewissheit schenkt, dass sie ihr Leben selbst steuern und gestalten können. Und nicht zuletzt verleiht es ihnen die Fähigkeit, anderen vertrauen zu können und sich mit nahestehenden oder auch fremden Menschen auseinanderzusetzen. In einem „Haus der Angst“, wie es Nouwen formuliert, gibt es all das nicht und wer darin wohnt, der fasst weder Vertrauen in sich, noch vertraut er anderen, sei es in einer Partnerschaft oder der Gesellschaft.

Nur die Liebe ist stärker als die Angst

Für Henri Nouwen ist die Liebe das einzige Mittel, mit dem man der Angst begegnen kann. Nur wenn wir die Ressource der Liebe in uns aufspüren und nähren, haben wir die Möglichkeit, dem „Haus der Angst“ zu entfliehen und uns stattdessen in einem „Haus der Liebe“ einzurichten. Hier haben wir die Chance, eigene Perspektiven zu entwickeln und können Bewegungsfreiheit und wirkliches Leben finden. Hier kann unser Leben trotz schwieriger Umstände, Krankheit und Problemen gelingen und Freude machen. In der „Arche“, einer Lebensgemeinschaft geistig behinderter Menschen, in der Henri Nouwen als geistlicher Seelsorger seit 1986 gelebt und gearbeitet hat, hatte er genau das erfahren. „Auf irgendeine geheimnisvolle Weise bilden die Behinderten und ihre Betreuerinnen und Betreuer eine Gemeinschaft der Liebe, die stärker ist als die Todesängste der Bewohner“, schrieb er in seinem Band „Dem Leben neu begegnen“

Liebe kann mangelndes Urvertrauen ersetzen

In der „Arche“-Lebensgemeinschaft erkannte Nouwen einen „Ausdruck der Gegenwart Gottes“, in der Glück und Traurigkeit gleichermaßen gelebt werden. Doch auch wer nicht an Gott glaubt, spürt, dass Liebe eine spirituelle Dimension und Tiefe hat und letztlich das Einzige ist, was wir den harten Erfordernissen der Realität entgegensetzen können. Doch was kennzeichnet für Nouwen ein „Haus der Liebe“, das sich jeder gegen die Angst errichten sollte? Intimität ist für ihn das erste und offenkundigste Zeichen für ein „Haus der Liebe“. Es ist meist die Angst, die das Entstehen von Intimität im Keim erstickt. „Angst lässt uns voreinander fliehen oder aber uns aneinander festklammern. (…) Angst nötigt uns entweder zu allzu großem Abstand oder zu allzu enger Nähe.“ Beide Verhaltensweisen verhindern letztlich das Entstehen von Intimität, erkannte Nouwen.

In einem „Haus der Liebe“ achtet man sich selbst und will nicht jedem gefallen.

Warum aber haben wir das Bedürfnis, auf sichere Distanz zu gehen oder neigen zum Anklammern? Nouwen glaubte, dass dem weit verbreiteten Drang einerseits nach Abhängigkeit und andererseits nach Unabhängigkeit dieselbe Urangst zugrunde läge. Die Psychologie sieht den Grund dafür im mangelnden Urvertrauen eines Menschen, das sich bereits in den ersten Lebensjahren herausbildet. Menschen, die in dieser Urangst aufwachsen, darin gefangen sind und kein Urvertrauen entwickeln konnten, fühlen sich weder willkommen auf dieser Welt noch von ihren Nächsten angenommen und geliebt. Sie neigen deshalb dazu, sinn- und nutzlose Fragen zu stellen und haben das Gefühl, als läge die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern, da sie sich für alles verantwortlich.

Wie man sich ein „Haus der Liebe“ baut

In den Schriften Henry Nouwens finden sich noch drei spirituelle Anregungen dazu, wie man ein „Haus der Liebe“ bauen kann, in dem man selbst und andere Geborgenheit und Anerkennung finden.

1. In einem „Haus der Liebe“ achtet man sich selbst und will nicht jedem um jeden Preis gefallen. Wer alles tut, um anderen zu gefallen, macht seine Identität vom Urteil anderer abhängig.

2. In einem „Haus der Liebe“ hat man die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, kann aber auch eine vertrauensvolle menschliche Gemeinschaft finden. „Ein Ort der Geborgenheit ist wie eine gewölbte Hand; weder ganz geöffnet noch ganz geschlossen: An diesem Ort ist Gedeihen möglich“, meinte Jean Vanier, der Gründer der „Arche“.

3. Wer sich im eigenen Haus unablässig von anderen in Anspruch nehmen lässt, wird irgendwann müde, ängstlich und ungehalten. Deshalb sollte man sich in einem „Haus der Liebe“ das Recht nehmen, selbst zu entscheiden, wann und wem man Zutritt zu seinem inneren Leben gewährt. Stellen Sie sich eine mittelalterliche Burg vor, die von einem breiten Wassergraben umgeben ist. Der einzige Zugang zum Inneren der Burg ist die Zugbrücke. Der Burgherr muss entscheiden können, wann die Brücke hochgezogen und wann sie heruntergelassen wird. Ohne diese Entscheidungsgewalt könnte er leicht Feinden, Räubern oder Wegelagerern zum Opfer fallen. Nie wäre er in seiner Burg sicher. Deshalb ist es ratsam, seine Zugbrücke unter Kontrolle zu behalten. Es muss Zeiten geben, in denen die Brücke hochgezogen bleibt und man denen zusammen zu sein, denen man sich nahe fühlt. Wer jedem jederzeit großzügig entgegenkommt, wird bald merken, dass er seine Seele verliert. Wer dagegen bewusst darauf achtet, wem er Einlass gewährt, wird in seinem Herzen neue Freude und neuen Frieden entdecken und imstande sein, diese Freude und diesen Frieden mit anderen zu teilen.

Inge Behrens